108 

Die letzte Nacht liegt noch in meinen Knochen. Das ganze letzte Jahr liegt gefühlt noch in meinen Knochen. Sehnen. Muskeln. Gelenken. Ich stapfe durch die Stadt so als wäre meterhoch Schnee. Meine Füße sind schwer. Ich komme nicht voran. Irgendetwas zieht mich zurück, und es hilft nicht, dass die Dunkelheit schon längst wieder eingezogen ist. Wie immer zu zeitig um diese Jahreszeit. Es ist siebzehn Uhr. Es hat elf Grad. Erster Jänner. 

Mysterious ways 


Müde und erschlagen ziehe ich also durch den Abend, nachdem ich mich kurz zuvor doch noch von der geliebten Couch gelöst habe, was ich eigentlich in der Sekunde bereute, dann allerdings der Stolz den nötigen Kick gab, gepaart mit dem Wissen um das Belohnungsgefühl danach, wenn mensch sich und seine Sitzknochen, schön ausgedrückt, doch hoch bekommen und sich bewegt hat, kurz, es ist kompliziert. Ich tröste mich damit, dass es vielen so geht. Grundsätzlich lebe ich Bewegung, ja ich, Yogalehrer:in, aber heute ist einfach einer dieser Tage. Ich folge einer Einladung, die ich nicht ausschlagen konnte, nicht ausschlagen wollte, die ich zum damaligen Zeitpunkt für großartig befand, auch weil ich in dem Moment, als sie mich gefragt hatte, ob ich denn kommen würde, aus irgendeinem unerfindlichen Grund, den ich jetzt nicht mehr benennen kann, nur zugesagt habe, um nett zu sein, um sie nicht vor den Kopf zu stoßen, keine passende Ausrede hatte, oder nicht genug beziehungsweise gar keinen Mut gehabt hatte, ehrlich, nein, nein danke, zu sagen, obwohl ich eigentlich wusste, dass ich wahrscheinlich an diesem Tag so wenig wie möglich machen will und kann. Ich wundere mich über mich und meine Wege und muss dabei plötzlich an ein altes Lied von U2 denken. 

108 Sonnengrüße  

Eins. Hier bin ich also. Zwei. Drei. Sonnengrüße. Vier. Ein Ritual zum Neuen Jahr. Fünf. Auf der Matte. Sechs. Wider meinem Willen und entgegen den Empfindungen meines Körpers. Nicht die besten Voraussetzungen. Sieben. Ich predige selbst in meinen Stunden das Gegenteil. Und höre jetzt nicht auf mich. Dumm, denke ich. Acht. Was soll’s! Es wird mir gut tun. Rede ich mir zumindest ein. Neun. Ich schwitze jetzt schon. Das ist ungewöhnlich. Zehn. Eine gute Idee. Dachte ich. Gute Vorsätze. Dachte ich. Dreizehn. Nein, stimmt nicht, ich versuchte es mir schön zu reden. Siebzehn. Naja, es wird mich jedenfalls reinigen. Zweiundzwanzig. Hoffentlich rieche ich heute nicht. Dreiundzwanzig. Nein, oder? Dreißig. Ich mache einfach weiter. Die Lehrerin, meine Mentorin, mein Vorbild und Inspiration. Ich kann jetzt nicht schlapp machen. Dreiunddreißig. Die Latte ist sehr hoch. Sie ist zwanzig Jahre älter und top fit. Ich mache weiter. Verliere den Überblick. Zweiundvierzig. Die Antwort auf alles. Oder auch nichts. Fünfundvierzig. Ich verliere mich. Sie macht zahlreiche Variationen mit uns. Mal linkes Bein hoch heben aus dem hinabschauenden Hund heraus. Mal rechtes. Neunundvierzig. Dann wieder klassische Sonnengrüße. I und II oder A und B. Wie man will. Offene, mit weiten Armen. Dann wieder nah am Körper. Vierundfünfzig. So geht es dahin. 

Halbzeit  

Sechzig. Ich glaube, ich bin in Bikram-Yoga. Alle meine Poren sind geöffnet. Das soll wohl der Sinn und Zweck sein. Ich spüre meine Beine. Sie werden schwerer und schwerer. Sechsundsechzig. Von den Armen ganz zu schweigen. Neunundsechzig. Das wird ein gesalzener Muskelkater. Habe ich so gut wie nie. Siebzig. Wo sind wir? Mein Kreislauf. Er mach nicht mehr mit. Siebenundwas? Ich mache dafür eine kurze Pause. Mit schlechtem Gewissen. Die anderen scheinen voll motiviert zu sein. Ich mache noch einen Schluck. Trinke mehr als ich sollte. Achtzig. Oder so. Achtundachtzig. Ich bin richtig durstig. Der Ehrgeiz der anderen treibt mich an. Mein Ehrgeiz treibt mich an. Neunzig. Ein und. Zwei und. Drei und. Ich bin anscheinend einem meditativen Zustand sehr nahe. Vier und. Aber auch dem Ende. Meinem. Und noch ein Sonnengruß. Auch hier nähert sich das Ende. Halleluja. Hundert. Man soll doch auf seinen Körper hören. Ich bin taub. Es geht nicht immer. Es geht nicht immer gleich. Was ist eigentlich los mit mir? Ich bin wie in einem Delirium. Ich kann nicht mehr. Hundertsechs. Bin ich schon gereinigt? Erleuchtet? Endlich. Hundertacht. 

38,5  

Als ich die Augen öffne, blicke ich in ein freundliches Gesicht. Zugleich ist es auch besorgt. Das beunruhigt mich. Das Fieber ist schon etwas runter gegangen. Höre ich. Mit sanfter Stimme. Achtundreißigkommafünf, nur mehr. Ich verstehe nicht. Ich war doch gerade … Du hast geträumt. Voll gestöhnt dabei, so als hättest du Schmerzen. Was? Ach so … Fiebertraum. Die Erinnerung kommt zurück. Zaghaft. Ich liege seit zwei Tagen mit Grippe oder so im Bett. Auch wenn ich wollte, hätte ich nicht gekonnt. Ich habe also auf meinen Körper gehört. Beziehungsweise hat er lautstark zu mir gesprochen. Damit ich es kapiere. Las los! Ruhe geben. Pause. Habe ich wahrscheinlich gebraucht. Aber nächstes Jahr bestimmt. 108 Sonnengrüße zum Neuen Jahr. Das nehme ich mir vor. Ohne guten Vorsatz. 

Etienne Thierry

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