Zwischenzeit

Zwanzig Leute strömen aus dem Raum. Das Semester hat begonnen, ein Kurs für Anfänger:innen. Ich reiße alle Fenster auf. Wie immer, aber in dem Fall traf die übliche Anstrengung auch auf Aufregung vor Neuem. Und vielleicht auf ein bisschen Angst, nicht ganz blöd auszusehen. Obwohl niemand blöd aussieht, wie ich finde. Das versuche ich meinen Schüler:innen ohnehin immer zu vermitteln, aber erfahrungsgemäß legt sich dieses Gefühl bei den meisten erst nach ein paar Einheiten, egal wie oft ich es ihnen versichere. Sofern sie überhaupt gefallen gefunden haben und wiederkommen. Jetzt riecht es abgestanden. Lüften ist Programm. Nur, der Vorfrühling von draußen bringt nicht wirklich Besserung. Er stinkt sogar richtig. Abgase, Zigarettenrauch, umgefallener Mistkübel, komisches Niedrigdruckwetter liefert’s frei Haus, was weiß ich. Fenster zu.

Bis zu meiner nächsten Einheit ist noch knapp eine Stunde Zeit. Ich lüfte zum Stiegenhaus hin, wo es noch ziemlich frisch rein kommt. Die Kälte ist aus den alten Häusern nicht so schnell rauszubringen. März ist eben noch nicht Mai, und auch die wieder normallangen Tage und warmen Temperaturen untertags können darüber nicht hinwegtäuschen. Und eigentlich sieht man es dem Frühling an, dass er zwar aufgewacht, aber eigentlich noch müde ist. Noch nichts frisch und grün, alles noch grau, brau, gatschig, kleine Steinchen überall. Ich drifte ab, mache mir eine mental note, diesen Gedanken in meiner geführten Meditation am Ende der Stunde aufzugreifen.

Aufräumen

Nach dem Durchzug, starte ich drinnen meine Routine, fast ein Ritual. Ich bereite den Raum für die nächste Einheit, eine offene Klasse, vor. Entferne Fussel und anderes Zeugs vom Boden, putze ein paar Matten nach, die mir zuvor etwas zu wenig Berührung von einem Tuch und nur vernachlässigbare Spritzer Reinigungsflüssigkeit bekommen haben, falte Decken ordentlicher und lege sie auf Kante, ordne die im Regal irgendwie herumkugelnden Kissen übereinander, staple Blöcke zu geraden Türmen, hänge runtergefallene, feuchte Matten wieder auf, rolle trockene ein, kontrolliere, ob genug Toilettenpapier da ist, heize ein bisschen ein, schaue auf der einen App die Anzahl der Angemeldeten an, zwei, dann im anderen System, zwei, und auf den Nachrichtenapps, ob mir jemand geschrieben hat, nein, also nicht wegen der Yogastunde, kleine Runde also, denke ich, wie fein, und dass noch Zeit ist, bis die ersten kommen, dann zünde ich Kerzen an und setze mich auf ein Meditationskissen.

Das Meditieren fällt mir schwer. Der plötzliche Frühling stresst mich, ich sollte auch draußen sein, die Sonne genießen, dann beruhige ich mich etwas, und versichere mich, dass noch viele warme Tage kommen werden. Ich überlege, ob ich, weil Frühling ist, über Entschlackung und Reinigung als nächstes schreiben soll, das bietet sich an, dann denke ich, dass jedes Jahr um die Zeit genug darüber geschrieben wird, und entscheide, die Entscheidung, was ich schreiben werde, zu verschieben. Das kann ich gut. Weiter geht’s, ich muss daran denken, dass wenige Menschen angemeldet sind, und blöd, so wird’s ganz schnell existenziell, ich auto-beruhige mich wieder, denn Hallo, ich mag kleinere Gruppen, ich kann viel intensiver auf meine Schüler:innen eingehen, selbst mehr mitmachen, bekomme in solchen Fällen viel positive Energie zurück, und dann bin ich schon wieder ganz woanders und plötzlich beim Skorpion, den ich schon lange nicht mehr gemacht habe, weil ich das Vertrauen in meine Unterarme vor einer Weile verloren habe, andere Geschichte, aber die Position wäre ja so gut für die Wirbelsäule, vielleicht schreibe ich darüber, und so geht’s weiter und die Gedanken fahren Karussell und ich mit ihnen, was soll ich sagen, es ist eine Qual, kleine Steinchen überall, und dann kommt der Gong. Fünfzehn Minuten gekämpft.

Aufatmen

Da immer noch Zeit ist, und alles Gedachte nachschwingt, beschließe ich eine Pranayama-Atemübung zu machen. Und zwar Anuloma Viloma[1]. Die Wechselatmung wird auch Nadi Shodana, genannt. Auf körperlicher Ebene hilft diese Atmung unter anderem die Nasendurchgänge zu öffnen und ist vorzüglich gegen Allergien, Heuschnupfen und Asthma. Regelmäßiger Frühjahrsputz. Entschlackung von Nase und Lunge, quasi. Energetisch hilft sie dabei, dass die Lebensenergie besser fließen kann, sehr kurz gesagt, über Nadis könnte ich mal schreiben, Wechselatmung hilft auf geistiger Ebene, zur inneren Ruhe und Kraft zu finden, ein bisschen mehr Ausgleich schadet mir heute nicht, wie ich gemerkt habe, und sie fördert die Konzentrationsfähigkeit und bereitet den Geist auf die Mediation vor. Ja, ich weiß, hätte ich sie nur davor angewendet. Kleine Steinchen überall.

4 Einatmen links, 4 Anhalten, 8 Ausatmen rechts. Und zurück. Mein Rhythmus heute, acht Runden, ich will’s ja nicht übertreiben. Dann beginne ich mich aufzuwärmen, vor allem nach dem Sitzen in der Meditation, die eher ein Gehirnsturm war, und dem Pranayama, drängt mein Körper wieder nach Bewegung, Nacken, Handgelenke, Ellbogen, Hüfte, Knie, Fußgelenke, kreisen, kreisen, kreisen, dann mache ich ein paar Sonnengrüße, beim letzten hinabschauenden Hund beuge ich meine Arme und komme, auf die Unterarme gestützt, in den Delfin. Ich schwinge mit der Atmung etwas vor, mit dem Kopf über die Fingerspitzen hinaus und zurück, und komme dann schrittweise mit den Füßen näher Richtung Hände, hebe ein Bein, recke den Kopf höher, das zweite schon auf Zehenspitzen, bereit zum Abheben, ich will mich hinaufschwingen, gleich, dann höre ich meine Schüler:innen ins Studio kommen.

Aufwärmen

Ich setze ab, richte mich auf. Wo ist die Zeit hin? Ich bin voll darin verloren gewesen. Freue mich kurz darüber, aber als ich auf die Uhr blicke, sehe ich, dass nur mehr ein paar Minuten bis zur offiziellen Beginnzeit sind. Verdammt, ich wollte noch … kommt es reflexartig. Aber, was wollte ich eigentlich noch? Nichts. Es ist der Drang, die Pausen mit irgendwas und noch mehr zu füllen, produktiv, sich abzulenken von Leerzeiten, Zwischenzeiten optimal zu nutzen. Dabei wird häufig übersehen, was schon da ist.

Am Ende der Einheit, während ich meine Schüler:innen im Shavasana liegen lasse, und ich auf einem Kissen sitze, merke ich was diese Vorbereitung auf die heutige Stunde mit mir machte. Ich bin voll reingekippt, in vermeintlichen Nebensächlichkeiten, war konzentriert, beim Aufräumen, kontemplativ, im Atmen, Zen, beim Aufwärmen. Irgendwie meditativ, und ich hab’s nicht gemerkt. So ein Ritual geht sich natürlich nicht immer aus, manchmal ist auch so gut wie keine Zeit zwischen den Stunden, oder ich komme von woanders und ja, manchmal ist es auch bei mir kurz vor knapp. Ich zucke mit den Schultern. So ist es einfach. Immer unterschiedlich. In diesem Moment fühle ich mich friedvoll und weiß plötzlich, dass ich nicht über Entschlacken, aber über den Frühling schreiben werde, der kann kommen, egal wie er riecht, und den Skorpion probiere ich ein anderes Mal wieder. Vielleicht in einer Zwischenzeit, wie der Vorfrühling, kleine Steinchen überall.


[1] kontraindiziert während der Menstruation

Etienne Thierry

INFOS Ausbildung 300h Yogalehrer*in

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