Yama

Er starrt mich an. Fast entsetzt. Oder belustigt. Ich lächle. Versuche es zumindest. Sein Blick wandert an mir rauf und runter. Ich kann es nicht einordnen. Ich ignoriere es und sage ihm, was ich möchte. Echinacea. Etwas fürs Immunsystem. Zur Unterstützung. Vorbeugend. Er versteht es falsch. Glaubt ich bin krank. Erklärt mir etwas von Vorsicht mit der Einnahme. Zur Wiederholung, es handelt sich um Echinacea. Er redet weiter. Zu lang, zu ausführlich von Wechsel- und Nebenwirkungen. Mansplaining. Will er mir noch etwas anderes andrehen? Hinter mir wird die Schlange länger. Ich spüre ihren Druck und die Ungeduld. Sie geben mir die Schuld. Ich beginne zu schwitzen. Er redet etwas von Fieber. Dann kommt endlich die Flasche. Er erklärt noch etwas. Ich bin irritiert, zahle und gehe.

Explain it, please!

Etwas war sehr eigenartig an dieser Situation. Mehr als das. Es ist auch nicht das erste Mal passiert. Weder das Starren. Noch das ungefragte Erklären von Sachverhalten, die ohnehin klar sind. Witzigerweise, oder besser gesagt traurigerweise, macht der Apotheker es nur in solchen Fällen. Nach meiner Meniskusoperation vor ein paar Jahren kam nur ein: drei Mal am Tag nach dem Essen. Sogar den Magenschutz habe ich selbst erfragt.

Als ich in die Apotheke rein bin, habe ich kurz überlegt, zu einem anderen, besetzten Schalter zu gehen und mich dort anzustellen und zu warten, obwohl seiner frei war. Kam mir idiotisch vor in dem Moment. Das ist wie die Straßenseite wechseln, und das sollte nicht nötig sein.

Anahata Asana

Aus dem Vierfüßerstand heraus, bringe ich meine Arme gestreckt nach vorne, weg von mir, über den Mattenrand hinaus, lege aber nicht die flachen Hände ab, sondern stütze mich auf die Fingerspitzen, alle zehn, weiter nach vorne, mein Oberkörper sinkt langsam nach unten, mehr und mehr, das Gesäß zieht in die andere Richtung, das Brustbein Richtung Matte, noch ein Stückchen, bis ich die Stirn und dann das Kinn ablegen kann, mein Herz soll offen sein.

Beipackzettel lesen

Beim nächsten Mal. Vitamintabletten. Der Winter ist so gut wie da. Ich steige um vom Fahrrad auf öffentliche Verkehrsmittel. Die sind alle übervoll vor Weihnachten. Ich bin müde, habe gerade viel um die Ohren und will nicht krank werden. Ich will sie unterstützend nehmen, ein paar Tage. Das sage ich dem Apotheker nicht. Stattdessen nur die Marke, welche ich mir zuletzt vor einem Jahr gekauft habe. Er starrt mich wieder an. Unangenehm. Rauf, runter geht auch der Blick. Dann sehe ich kurz wie er seine Fassade runter lässt. Keine Dienstleisterfreundlichkeit. Für ein paar Momente. Verachtung. Das ist in seinen Augen. Verachtung. Im Gesichtsausdruck. Er verachtet mich. Es ist nicht zu übersehen. Dann fällt ihm wieder ein, wo er sich befindet. Schnitt. Fake-smile. Er beginnt mit Erklärungen zu möglichen whatever … ich höre nicht mehr zu. Risiken. Warum nimmt das Terminal meine Bankomatkarte heute nicht gleich? Überdosierung. Er mansplained schon wieder. Ich glaube, er glaubt, dass ich nicht lesen kann, mich mit Vitamintabletten vergiften will, oder keine Ahnung. Beim zweiten Mal funktioniert’s. Mit Reinstecken und Code eintippen. Nach dem Essen am besten. Sagt er noch. Zahlung erfolgt. Rechnung? Brauche ich nicht. Danke, auf Wiedersehen.

My own way

Am Beginn der Meditation fällt es mir schwer den Kopf frei zu bekommen. Ich konzentriere mich auf meinen Atem. Zähle mit. Der Apotheker ist nicht der einzige. Nicht der erste. Jeden Tag, jeden Tag wenn ich das Haus verlasse und auf Menschen treffe, werde ich angestarrt. Blöd. Belustigt. Aggressiv. Als nicht binäre Person, der man dies auch ansieht, falle ich auf, bin im besten Fall eine zu begaffende Kuriosität, werde ausgelacht, oder ecke derart an, dass die Menschen von mir angewidert sind und dies zeigen. Sie machen keinen Hehl daraus. Genügend zischen mir ihre Verachtung auch mit Worten um die Ohren. Meistens gerade noch so wahrnehmbar, manchmal lauter. Ich versuche es zu ignorieren. An guten Tagen gelingt das. An schlechten naja. Wie viele weiblich gelesenen Personen wechsle auch ich die Straßenseite, wenn eine Gruppe Männer am Gehsteig steht. Vorsichtsmaßnahme.

Negatives Delulu

Die Verachtung kommt aber nicht nur von ihnen. Sie ist überall. Der Postbeamte am Schalter. Er hasst sicher meine Briefe und Pakete. Der Psychiater im zweiten Stock. Erschreckt jedes Mal, wenn ich grüße. Er kann mir auch nicht ins Gesicht blicken. Die Angestellte der chemischen Reinigung. Die Jugendlichen vor dem Elitegymnasium. Der Kassier beim Billa ums Eck, der ganz besonders. Die Buchhändlerin gegenüber. Ich bilde es mir nicht ein. Es tritt wiederholt auf. Und weil ich mir oft nicht sicher war, habe ich Freund:innen mitgenommen. Sie haben mir es dann auch bestätigt: Ich täusche mich nicht. Der Apotheker, diese Menschen missbilligen mich. Ich bin weder wahnhaft, und die Welt ist nicht per se gegen mich, noch bin ich in einer mich zu wichtig nehmenden, negativen delulu-Spirale[1] gefangen und sehe nur mehr alles Schlechte. Uff.

Yama – Ahimsa

In der Mediation kann ich meinen Kopf schwer ruhig halten. Versuche offen zu bleiben. Anahata. Konzentriere mich auf das Herz. Irgendwann klappt’s, das Konzentrieren, aber nicht das Öffnen. Dann kommt aber auch schon der Gong.

Ich sehe dennoch klarer.

M. sagt ich muss den Apotheker aushalten, so wie der mich aushalten muss. Aber ich muss nicht, denn ich kann in eine andere Apotheke gehen, obwohl diese so praktisch am Heimweg liegt. Er jedoch sollte mich aushalten können, denn ich bin Kund:in. Und unser Kontakt äußerst kurz. Ich zahle. Nur die Rechnung ist nicht so einfach. Apotheker:innen wie ihn gibt’s wahrscheinlich an jeder Ecke. Somit muss ich wohl M. zustimmen.

Ich versuche nicht schlecht über den Apotheker zu denken. Nicht schlecht über all diese Menschen zu denken. Ich kann sie nicht ändern. Yama. Sage ich mir. Yama. Wiederhole ich. Sehr oft. Achtgliedriger Pfad. Teil der erste Stufe. Gewaltfreiheit. Auch der Gedanken.

Offen bleiben. Offenes Herz. Ganz schön schwierig.

Etienne Thierry


[1] von engl. delusional; viral on social media, besonders TikTok, wird dort, abweichend von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, verwendet, um zu beschreiben, dass man mit reiner Willenskraft das eigene Schicksal (positiv) bestimmen kann.

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