Anfänge
Ferienzeit. Weniger Menschen kommen ins Studio. Davor sind die Klassen voll, dann ein starker Abfall. Aber nicht nur jene Klassen, die hauptsächlich von Student:innen besucht werden, sind ziemlich leer. Wobei man das ziemlich schon fast streichen kann. Erst gegen Ende der Ferien kommt die reuige Rückkehr. Langsam. Außer das schlechte Gewissen nagt früher. Es sind Wellen. Wie ein Rhythmus.
Es ist sicher nicht in allen Studios so, und manche Yogalehrer:innen werden saisonunabhängig überrannt, das ist gut. Für mich ist dieser Zyklus jedoch fast Gewohnheit geworden, wie Jahreszeiten, ich bevorzuge manchmal sogar kleinere Klassen, Emoji mit Händen vor den Augen oder Emoji klopft mit Hand auf die Stirn, ja, ich weiß, wirtschaftlich gesehen ist das natürlich nicht optimal, aber kleinere Klassen lassen mehr Nähe zu. Ein intensiveres Eingehen auf Bedürfnisse, Probleme, Stimmungen, Vorstellungen, Ziele, so unterschiedlich wie Menschen eben sind.
Unerwartete Einzelstunde
Ich habe schon lange keinen Kurs für Anfänger:innen mehr unterrichtet, aber ohne Fragen gemerkt, dass ich mich in einem befinde, und war trotzdem überrascht. Jede noch so „leichte“ Bewegung, wie das Kreisen des Oberkörpers in einer sitzenden Position, egal welche Sitzart, zum Beispiel, war ihm ungewohnt, eher eine Herausforderung, oft eine große Anstrengung, schien fast sogar schmerzhaft. Das habe ich nicht erwartet. Ich staunte innerlich. Den Sonnengruß habe ich noch vor dem ersten reduziert auf eine vereinfachte Abfolge von Positionen, mit erleichternden Varianten und Hilfestellungen, langsam durchgeführt, Schritt für Schritt erklärt, mit Pausen dazwischen und nach drei Durchgängen auch beschlossen, dass es reicht. Die Erschöpfung war ihm anzusehen, der Kopf rot, der Atem schwer. Sein Gesicht jedoch strahlte mich an. Mehr!
Keep it simple!
Zurück zum Beginn. Noch vor den Sonnengrüßen. Ujjayi erklären. Gemeinsam üben. Ein Versuch. Atmung generell erklären. Bei jeder Anstrengung hielt er die Luft an. Bandhas erklären. Beckenboden, was? So gut es eben geht. „Wie den Drang zurückhalten.“ „Aha! Wie?“ „Na, wie, wenn du dringend musst, es aber noch keine Möglichkeit gibt …“ Große Augen. Next. Aufwärmen. Gelenke schmieren. Zurück zur Basis. Klare Ansagen. Leichte Übungen. Genaues Erklären. Genaues Ausführen meiner Bewegungen. Jede wurde kopiert. Achtsamkeit. Vorsichtig in die Position rein und raus. Nach dem Surya Namaskar, und damit haben sich die Sanskrit-Begriffe in dieser Stunde auch limitiert, zwei, drei „einfache“ Asanas, Erschöpfung, glückliches Lächeln, endlich, Endentspannung. Trotzdem konnte er nicht ruhig liegen. Aber das kenne ich von vielen Klassen. Und was macht das alles mit mir?
Zurück zum Anfang. Reduktion. Auf das Wesentliche. Und Entschleunigung. Achtsamkeit. Und viele andere Begriffe, die ich seit langem kenne, weiß, umsetze, für andere aber völlig fremd sind, viele Bewegungen, die ich mache, unterrichte, und als selbstverständlich ansehe, es aber nicht sind. Bei weitem nicht. Die Stunde mit Clemens hat mich wieder daran erinnert. Und es braucht nicht viel. Oft reicht schon die einfachste Bewegung. Das ist natürlich subjektiv. Es braucht keine fancy clothes, keine Musik, keine Action, keinen Flow, keine Peakpositions, keine Kerzen, keinen Duft, keinen perfekten Strand, Sonnenauf- oder untergang, Ziegen, Welpen oder Pizza und so weiter, und ja, das ist alles gut, das hat alles seinen Platz, aber es ist nur ein Plus, es braucht nicht einmal viele Asanas, und es braucht nicht viele Schüler:innen. Manchmal kann eine einzige Person die eigene Wahrnehmung wieder etwas zurechtrücken. Weniger als gegeben, grundsätzlich annehmen, nicht immer von sich ausgehen, sondern offen bleiben.
Schwere Sätze, leichte Übung?
Am Ende der Stunde fällt mir ein Satz ein, den ich früher oft an den Anfang meiner Stunden gestellt habe: Yoga ist individuell. Das hole ich mir wieder, beschließe ich.
Ich sehe, wie Clemens versucht sich zu entspannen. Er zappelt, bewegt sich, kann einem Jucken nicht widerstehen. Ich muss wieder schmunzeln, erlöse ihn aus der Qual des Shavasanas und verabschiede ihn in den Abend. Am Heimweg hinterfrage ich mich, Sätze, Übungen, Metaphern mit Steinen, die er losgetreten hat, und ob die Stunde für ihn gut war, Ansichtssachen, Wirklichkeiten, Routinen, gute wie schlechte, Wertungen, und so weiter, also alles.
Mediation und Zwiebelschichten.
Wie man die Welt sieht, erkennt man erst im Spiegel anderer.
Clemens kam eine Woche später wieder.
Die Ferien in zwei Wochen vorbei.
Etienne Thierry
INFOS Ausbildung Yogalehrer*in 200h
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